Joachim Winter – Seit fast 10 Jahren Leiter des DLR-Projekts „Next Generation Train“

Joachim Winter ist der Bahnexperte, der am Institut für Fahrzeugkonzepte des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Stuttgart seit nunmehr fast einem Jahrzehnt das Projekt „Next Generation Train“ (NGT) leitet. Hinter diesem Vorhaben, an dem die Forscher des DLR arbeiten, steht mehr als die evolutionäre Weiterentwicklung des Status quo: Es wird die Version eines Hochgeschwindigkeitszuges für die Zukunft erdacht und konstruiert.


Als Joachim Winter im Jahr 2008 zum DLR kam, befand sich das Projekt noch in den Kinderschuhen. Damals war ein Leiter gesucht worden mit Hintergrund im Bahnsektor und Managementerfahrung, um das umfangreiche Vorhaben zu stemmen und zusammenzuhalten. Winter kannte das DLR aus gemeinsamen Projekten während seiner Zeit beim kanadischen Flugzeug- und Zughersteller Bombardier und als Entwicklungsingenieur beim Flugzeugbauer Dornier, der zum Daimler-Konzern gehörte.

Dem studierten Maschinenbauingenieur mit Schwerpunkt Luft- und Raumfahrt war aber auch der Schienenverkehr nicht fremd. Winters Eltern, sein Großvater und Urgroßvater, Onkel und Tanten waren Eisenbahner: Alle hatten in Stellwerken oder in der Verwaltung gearbeitet. Viele Gespräche drehten sich daher um das Thema Eisenbahn, verrät der NGT-Projektleiter. Aber – und das ist ihm wichtig: „Wir waren keine Pufferküsser“, so die etwas abschätzige Bezeichnung für Bahnenthusiasten, deren Liebe zur Schiene allzu ausgeprägt ist.

Den Ausschlag, warum er den Posten im DLR annahm, gaben das interessante Aufgabenfeld, der Freiraum und die Gestaltungsmöglichkeiten. Von Aerodynamik über Antriebstechnik, Energieflüsse, Fahrgastbewegungen, Klimatisierung, Leichtbau und Crashsicherheit, Rad-Schiene-Dynamik sowie infrastrukturelle Überlegungen – neben der Koordination dieser vielen fachlichen Aspekte sollten auch die Menschen und Institute hinter diesen Themen zusammengebracht werden.

Manager, Möglichmacher und Kontakteknüpfer

Neue Ideen aktiv einbringen und über den Tellerrand hinausschauen, diese beiden Eigenschaften will Joachim Winter immer wieder aufs Neue aus den Kollegen herauskitzeln und ihnen den dafür notwendigen Freiraum schaffen. Denn gerade die umfassende Herangehensweise unterscheide das NGT-Projekt von anderen, in Europa und weltweit, ist Winter überzeugt. Die vielen positiven Begutachtungen und Rückmeldungen aus der Forschung und Industrie stützen seine Einschätzung.

Sein Ziel als Projektleiter formuliert Winter in der für ihn typischen Direktheit: „Ich will keine Excel-Tabellen führen, sondern dafür sorgen, dass das, was die Kollegen erforschen und in Demonstratoren verwirklichen, in den Technologietransfer kommt. Sprich seinen Weg in die Unternehmen findet, die daraus Projekte entwickeln.“

Eine wichtige Herausforderung bestand zu Beginn darin, das NGT-Projekt sichtbar zu machen: Dazu trug vor allem der erste Auftritt auf der InnoTrans 2008 in Berlin bei. In den nächsten Jahren wuchs das Projekt Stück für Stück. Der thematische Fokus wurde ausgeweitet und die Fahrzeugpalette konsequent weitergedacht: Konzepte und Technologien für einen Zubringerzug „NGT-Link“ ergänzten das Vorhaben ebenso wie Ideen und Entwürfe für einen „NGT-Cargo“ Güterzug. Die Mitarbeiterzahl wuchs und hat sich fast verdoppelt. Mit einem jährlichen, DLR-internen Budget von rund sechs Millionen Euro arbeiten inzwischen elf Institute und 38 Forscher an Fragestellungen zum NGT und bringen ihr Wissen, ihre Kompetenz und Leidenschaft ein.

Der Zug der Zukunft: AeroLiner3000. (Grafik: © Andreas Vogler Studio)

Der enge Kontakt mit der Industrie war ebenfalls von Anfang an ein integraler Bestandteil des Projekts: Drittmittelaufträge ermöglichen die vertiefte Bearbeitung einzelner Themen. DLR-Know-how floss zum Beispiel in den Brennstoffzellenzug „iLint“ des Zughersteller Alstom ein, der 2016 auf der InnoTrans vorgestellt wurde. Eine weitere Erfolgsgeschichte ist das gemeinsam mit dem Architekturbüro Andreas Vogler Studio entwickelte Zugkonzept „AeroLiner3000“, das von der britischen Eisenbahnbehörde unterstützt wird. Der doppelstöckige Hochgeschwindigkeitstriebwagenzug beruht auf dem NGT-Konzept, kann durch seine reduzierte Höhe und Breite viele der bestehenden britischen Strecken befahren und erhöht die Linienkapazität zu einem Bruchteil der Kosten, die ein Streckenausbau verursachen würde. Durch innovative Leichtbauweisen und zukunftsweisendes Design besitzt er gleichzeitig das Potenzial, deutlich leiser und energieeffizienter als aktuelle Züge zu fahren. Worauf Winter und sein Team stolz sind: Oft besteht die Zusammenarbeit mit Unternehmen nicht nur aus einmaligen Aufträgen. Nachfolgeaufträge schließen sich an und ebnen den Weg für langfristige Kooperationen.

Zusätzlich haben es die DLR-Zugforscher geschafft, von Politik und Verbänden als Vordenker und Berater wahrgenommen zu werden.

„Sie fragen nach und interessieren sich für unsere Aussagen zur Zukunft des Bahnsektors. Das haben wir alle zusammen geschafft“, ist Winter stolz. Und auch privat nutzt der Projektleiter hin und wieder die Bahn für Reisen: „Wenn man im Zug sitzt, schaut man oft nach den technischen Details und es fällt einem eher auf, was sich am Komfort für die Fahrgäste noch ändern muss. Das können wir dann durchaus zum Thema in einem Forschungsprojekt machen.“

Weichenstellungen für eine vielversprechende Zukunft

Bahntechnik gibt es in Europa seit mehr als 150 Jahren. In Deutschland begann die Entwicklung im Jahr 1835 mit der Eröffnung der Ludwigseisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Was Spurweiten, Lichtraumprofile – also den Querschnitt, den ein Zug braucht, um beispielsweise sicher durch einen Tunnel zu fahren – oder die Elektrifizierung mittels Oberleitungen betrifft, gibt es sehr viele, über einen langen Zeitraum gewachsene Strukturen.

Das ist aber nicht überall so: „Einige Länder bauen ihr Eisenbahnnetz erst auf und haben daher ganz andere Möglichkeiten, neue Technologien zu testen und umzusetzen und bei der Infrastruktur andere Wege zu beschreiten“, fasst Winter zusammen.

Er kann sich deshalb gut vorstellen, dass das Zeitalter der Bahn, vor allem in ihrer Hightech-Version wie der NGT sie beschreibt, gerade erst beginnt. Beispielsweise könnten China und Russland über die Schiene an Europa angebunden und der Schiffsverkehr so teilweise ersetzt werden, was auch eine einfachere und frühere Verteilung von Gütern ermöglichen würde. Mit der Eisenbahn könne man in großen Dimensionen denken, ist Winter überzeugt. Das zeige auch der Ausbau beziehungsweise Neubau von Hochgeschwindigkeitsnetzen in China, der Türkei und an der Ostküste Australiens.

„Die Bahn war schon immer ein sehr sicheres und umweltfreundliches Verkehrsmittel. Auf sie entfallen nur sechs Prozent des Kohlenstoffdioxidausstoßes im Verkehr. Unser Mobilitätsbedürfnis wird weiter ansteigen, gleichzeitig wollen und müssen wir nachhaltiger unterwegs sein“, beschreibt er die Rahmenbedingungen. „Das Potenzial, die Attraktivität des Bahnverkehrs zu steigern, ist sehr groß. Dieses Potenzial muss aber auch genutzt werden. Vor allem gilt es, konsequent mit Hochgeschwindigkeitsstrecken zu arbeiten und die entsprechenden Zubringerlösungen anzubieten, so wie wir es beim NGT vorsehen.“

Für die nächsten Jahre hat das NGT-Team um Winter noch viele Ideen, für gänzlich neue Technologien ebenso wie für die Weiterentwicklung bestehender Ansätze. Die Fahrzeugpalette nach unten zu erweitern, kann er sich als Option gut vorstellen, zum Beispiel die nächste Generation von Metrofahrzeugen für den öffentlichen Personennahverkehr zu entwerfen. Interessant sind auch die Handlungsfelder Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung. Hier ist Winter schon daran, Schnittstellen innerhalb und außerhalb des DLR auszumachen. Persönlich würde Joachim Winter in einigen Jahren der Ruhestand rufen. Aber ob er angesichts der Vielzahl von Ideen und Herausforderungen diese Haltestelle wirklich nutzen will, darauf will er noch keine konkrete Antwort geben.


red/DLR

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