NEUKIRCHEN | Mehr als 25 Menschen starben 1972 bei einem der schwersten Zugunglücke in der DDR. Auf eingleisiger Strecke stießen zwei Personenzüge in Sachsen frontal zusammen. 50 Jahre später sind die Erinnerungen daran noch hellwach – und wird der Opfer gedacht.
Dichter Nebel herrscht an jenem Herbsttag Ende Oktober 1972. Das Wochenende ist vorüber und am Morgen machen sich viele Menschen auf den Weg zu Arbeit, Schule und Studium. Der D-Zug 273 aus Aue über Leipzig nach Berlin ist ziemlich voll. In der Früh ist in Leipzig auch der Karola-Express gestartet, Karlsbad ist sein Ziel. Mit Tempo 100 bis 120 kämpft er sich durch den Nebel, die Sicht liegt deutlich unter 100 Metern. Und er ist schon eine Viertelstunde verspätet. An der eingleisigen Strecke zwischen Crimmitschau und Werdau müssen sich beide Züge an einem Bahnhof kreuzen.
Auch Falk Löffler, damals 23 Jahre alt, steht an jenem Morgen wieder in der Tischlerwerkstatt seines Vaters in Neukirchen einige Hundert Meter Luftlinie von der Bahnstrecke entfernt. „Plötzlich haben wir einen mörderischen Knall gehört“, erinnert er sich. Kurz darauf heult die Sirene, die Männer eilen ins Gerätehaus ihrer Freiwilligen Feuerwehr und von dort mit weiteren Kameraden zum Unfallort. Sie zählen zu den ersten Helfern, vor sich ein Trümmerfeld.
Um 7.28 Uhr sind beide Züge auf eingleisiger Strecke in Schweinsburg-Culten, einem Ortsteil von Neukirchen, frontal zusammengeprallt, ist in den Ermittlungsakten festgehalten. 25 Menschen werden bei dem Unfall in den Tod gerissen, drei weitere sollen später in Krankenhäusern infolge schwerster Verletzungen gestorben sein. Von rund 70 Verletzten ist die Rede. Der Schaden wird auf 1,4 Millionen Mark beziffert. Es ist einer der schwersten Eisenbahnunfälle in der damaligen DDR.
Mit ihren Leitern machen sich die Helfer daran, zu den Verletzten in die Wagen zu steigen. Mit bloßen Händen, Eisensägen und Meißeln versuchen sie die Menschen aus den Trümmern zu befreien. Verletzte werden behelfsmäßig auf Brettern transportiert, wie Löffler erzählt. „Überall war Wimmern und Weinen zu hören.“ Es gibt nicht genug Krankenwagen, so dass Verletzte per Feuerwehrauto und Privat-PKW ins Krankenhaus gefahren werden. Derweil irren unverletzt gebliebene Passagiere offensichtlich unter Schock über angrenzende Felder. Die Toten werden auf einer Wiese neben der Bahnstrecke aufgereiht. Es werden immer mehr.
50 Jahre und viele Einsätze später hat der gestandene, inzwischen 73 Jahre alte Feuerwehrmann noch immer sichtlich mit den Eindrücken von damals zu kämpfen. „Das ging ans Limit“, bekennt Löffler. Als er jüngst seine Unterlagen zu dem Unglück noch einmal durchgesehen habe, habe er sich Tränen verdrücken müssen. „Ich kann nur den Hut ziehen vor allen, die da geholfen haben. Sie haben Unglaubliches geleistet.“
In den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) finden sich mehrere Berichte zu dem Unglück. Normalerweise hätten sich die Züge am Bahnhof Werdau gekreuzt, doch wegen Verspätungen und der Überlastung der Strecke wird dies auf den Bahnhof Schweinsburg-Culten in Neukirchen verlegt. Doch der Fahrer des Karola-Express übersieht dort das Haltesignal. Zudem hatte einer der beiden Triebfahrzeugführer den Fahrstand verlassen, obwohl er angesichts der Witterung seinen Kollegen bei der Strecken- und Signalbeobachtung hätte helfen müssen.
Beide seien „wiederholt für vorbildliche Leistungen ausgezeichnet“ worden und seit einigen Jahren im internationalen Reiseverkehr unterwegs, heißt es in den Akten. Doch die Gerichtsmedizin stellt bei der Untersuchung ihrer Leichen Restalkohol fest. Den Ermittlungen zufolge hatten sie nach Mitternacht etliche Flaschen Bier geleert und nach nur wenigen Stunden Schlaf die Fahrt angetreten. In einem als „streng geheim“ deklarierten Bericht vom 27. November 1972 heißt es zusammenfassend, dass der Triebfahrzeugführer den Unfall „schuldhaft verursacht“ habe und bei Fahrtantritt nicht voll dienstfähig war.
Doch intern gibt es offensichtlich auch Kritik an den Bedingungen bei der Deutschen Reichsbahn. Die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) des MfS hört sich damals in der Bevölkerung und bei Bahnbediensteten um, wie in den Akten dokumentiert ist. Zum einen wird demnach kritisiert, dass nicht alle Hauptstrecken zweigleisig ausgebaut sind; zum anderen, dass automatische Bremsanlagen in den Zügen fehlen, die eine Schnellbremsung auslösen, wenn ein Haltesignal überfahren wird. Auch eine hohe Arbeitsüberlastung samt vieler Überstunden bei den Eisenbahnern wird beklagt.
In der Zeitung wurde damals zwar über den Unfall berichtet, aber eine offizielle Trauerfeier gab es nicht, wie Christian Meyer erzählt. Er ist selbst Eisenbahner, Gemeinderat und hat sich intensiv mit dem Geschehen von damals befasst. „Es wurde viel verschwiegen, solche Unfälle durften im Sozialismus nicht sein.“ Wenn Angehörige später Blumen an der Unfallstelle niedergelegt hätten, seien die kurz darauf eingesammelt worden. Erst 2002, am 30. Jahrestag des Unglücks, wurde erstmals offiziell der Opfer gedacht und ein Denkmal, gestaltet von einem örtlichen Schmied, errichtet: Zwei Eisenbahnschienen formen ein Andreaskreuz, darunter das Wagenrad eines Zuges.
Zum Jahrestag am Sonntag soll hier mit einer Schweigeminute an das Unglück erinnert und der Opfer gedacht werden, sagt Meyer. Daran will sich auch Löffler mit Feuerwehrkameraden beteiligen. Heute ist die Bahnstrecke zweigleisig, wo einst ein Bahnübergang war, säumen Hagebuttensträucher und Birken die Gleise. Der 73-Jährige stapft durch hohes Gras, unter seinen Schuhen raschelt welkes Pappellaub. „Wir wollen keinen großen Rummel“, sagt Löffler. „Ich möchte mit dieser Geschichte abschließen.“