Aus einem kürzlich veröffentlichten Untersuchungsbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) geht hervor, dass am 1. Februar 2017 gegen 22:54 Uhr ein ICE in das durch einen Regionalzug besetzte Gleis 507 des Bahnhofs Gruiten eingelassen wurde. Durch diesen Vorfall wurde laut BEU beinahe eine schwere Zugkollision herbeigeführt. Der Triebfahrzeugführer des ICE konnte einen Zusammenprall mit dem Zug der Linie RB 48 von National Express Rail noch im letzten Moment verhindern.
“Unter leicht veränderten Bedingungen hätte die Störung zu einer Kollision und damit zu einem schweren Eisenbahnunfall führen können”, schreibt die BEU in ihrem Bericht und kommt zu dem folgenden Ergebnis: Der für den Bahnhof Gruiten zuständige Fahrdienstleiter (Fdl) hat vor Einfahrt des ICE nach Gleis 507 eine von der Gleisfreimeldeanlage angezeigte Besetztanzeige mittels Bedienung der Achszählergrundstellungstaste (AzGrT) aufgehoben, ohne die vorgeschriebene betriebliche Voraussetzung, den betroffenen Abschnitt durch Hinsehen zu prüfen, erfüllt zu haben. Anschließend stimmte der Fahrdienstleiter der Einfahrt des ICE 1522 durch Fahrtstellen des Einfahrsignals (Esig) B517 zu. Einen Auftrag zum Fahren auf Sicht hatte der Triebfahrzeugführer des ICE nicht erhalten. Der ICE beschleunigte daher auf rund 78 km/h. Nach Durchfahren eines Rechtsbogens erkannte der Triebfahrzeugführer das Zugschlusssignal des nach wie vor in Gleis 507 stehenden Regionalzuges 32490 und leitete umgehend eine Schnellbremsung ein. Der ICE kam etwa 15 m vor dem Zugschluss des vorausstehenden Zuges zum Stillstand. Der Triebfahrzeugführer erlitt aufgrund des Vorfalls einen Schock und wurde in Gruiten abgelöst.
Laut Untersuchungsbericht lag der Ausgangspunkt der betrieblichen Fehlhandlung in der Tatsache, dass der Fahrdienstleiter über die Fahrplanregelungen der Betriebs- und Bauanweisung, kurz Betra, F325016 17 / F325023 17 nicht informiert war. Anhand der vom Fahrdienstleiter geführten GSM-R-Funkgespräche steht für die ermittelnde Bundesstelle fest, dass der Fahrdienstleiter keine Kenntnis von der geplanten Zugteilung der Regionalbahn mit der Zugnummer 32486 in Gruiten hatte. Beide Betren machten dazu keine Angaben und verwiesen laut BEU im Abschnitt „Verständigung der Reisenden“ auf die in diesem Zusammenhang gültige Fahrplananordnung (Fplo) 30089 und auf Sonderfahrpläne für Zugmeldestellen. Die Fahrplananordnung lag dem Fahrdienstleiter nicht vor und hätte ihn bezüglich der bevorstehenden Zugteilung ohnehin im Unklaren gelassen.
Aus der Anordnung war laut Untersuchungsbericht zwar zu entnehmen, dass der Zug 32490 zwischen Köln Hbf und Gruiten am 1. Februar 2017 ausfallen wird, woher der Triebzug für die Fahrt des 32490 von Gruiten nach Wuppertal-Oberbarmen kommen würde, ging hieraus jedoch nicht hervor. Unter einem weiteren Punkt wurde dann der Leerreisezug 90219 von Köln West Wf nach Köln Hbf mit der Besonderheit eingelegt, dass dieser ab Köln Hbf in den Regionalzug 32486 übergeht, aus zwei Triebzügen der Baureihe 442 besteht und eine Länge von 144 m hat. Ob der Fahrdienstleiter in Wuppertal-Vohwinkel diesen Eintrag jedoch beachtet hätte, ist eher fraglich. Schließlich bezog dieser sich nicht auf den Bahnhof Gruiten und enthielt zudem auch keinen Hinweis auf eine Zugteilung des 32486. Zudem stellte die Untersuchungsbehörde fest, dass die aufgeführte Zusammensetzung des 32486 nicht der tatsächlichen entsprach, ebenso war die Längenangabe des Zuges falsch.
Die Zugteilung des DPN 32486 wäre, so stellt die Bundesstelle fest, nur aus dem Sonderfahrplan für Zugmeldestellen (S-FfZ), der von der DB Netz AG erstellt wurde, erkennbar gewesen. Dieser S-FfZ lag jedoch nach Aussagen der Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk in Wuppertal-Vohwinkel nicht aus, was die anschließenden Untersuchungen der DB Netz AG auch bestätigten. Es sei unklar, ob der S-FfZ überhaupt auf dem Stellwerk angekommen oder ob dieser dort abhandengekommen ist. Warum diese wichtigen Fahrplanregelungen den Fahrdienstleiter nicht erreichten, konnte auch durch die DB Netz AG im Rahmen ihrer Untersuchungen nicht geklärt werden, teilt die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung mit. Hier sollte das Infrastrukturunternehmen in jedem Fall prüfen, ob es sich hierbei um einen Einzelfall handelte oder ob der Prozess der Verteilung und Nachweisführung betrieblicher Unterlagen zu verbessern wäre. Im Übrigen war der der BEU vorliegende S-FfZ fehlerhaft. Die Zugteilung des DPN 32486 und der Verbleib des hinteren Zugteils 32490 in Gleis 507 waren zwar verständlich geregelt, über die daraus resultierende abweichende Gleisbenutzung für die Züge ICE 1522 und DPN 32556 machte der Sonderfahrplan keine Angaben. Da der Fahrdienstleiter den S-FfZ jedoch nicht kannte, seien diese Feststellungen laut Untersuchungsbericht aber von untergeordneter Bedeutung.
Wie der Bericht der BEU weiter zeigt, haben die in erster Linie für die Sicherheit im Bahnbetrieb eingesetzten sicherungstechnischen Einrichtungen – wie die Gleisfreimeldeanlage – ordnungsgemäß funktioniert. Die Sicherheit im Bahnbetrieb wird aber auch durch die ordnungsgemäße Bedienung der Anlagen und durch die sichere und konsequente Anwendung der betrieblichen Regeln gewährleistet. Der in Gleis 507 verbliebene Zugteil 32490 wurde durch die ordnungsgemäß funktionierende Gleisfreimeldeanlage erkannt und durch eine Rotausleuchtung dem Fahrdienstleiter angezeigt. Aus diesem Grund war die Zustimmung zur Einfahrt des ICE 1522 und das Fahrtstellen des Esig B517 nicht möglich. Das erkannte auch der Fahrdienstleiter. Nur machte die Rotausleuchtung nach der Ausfahrt des DPN 32486 für ihn keinen Sinn. Da er von dem verbliebenen Zugteil nichts wusste, hätte das Gleis nun frei sein müssen, heißt es im Bericht. Dem Fahrdienstleiter kam deshalb der Verdacht, dass es sich um eine Störung der Gleisfreimeldeanlage, die in dieser Form auch nicht völlig unüblich ist, handeln könnte. Um Gewissheit darüber zu erlangen entschied er, so lange zu warten, bis Zug 32486 an seinem Stellwerk vorbeigefahren ist, um dann zu prüfen, ob der Zug auch vollständig ist. Die Logik dahinter besteht darin, dass wenn der Zug vollständig bei ihm vorbeifahren würde, dann müsste zwangsläufig das Gleis 507 des rückliegenden Bahnhofs Gruiten, aus dem der Zug ausfuhr, frei von Fahrzeugen sein. Die Rotausleuchtung der Melder der Gleisfreimeldeanlage wäre dann auf eine Störung zurückzuführen. Der Fahrdienstleiter prüfte das Freisein des betroffenen Gleisabschnitts in Gruiten somit mittelbar. Das Hinsehen war ihm wegen der Entfernung zwischen seinem Stellwerk in Wuppertal-Vohwinkel und dem Bahnhof Gruiten natürlich nicht möglich.
An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass das Abwarten des Fahrdienstleiters bis zum Erkennen des Zugschlusssignals von DPN 32486 entscheidenden Einfluss auf den Ausgang dieses Ereignisses hatte. Dadurch war der ICE 1522 vor dem Einfahrsignal des Bahnhofs Gruiten zum Halten gekommen und ist danach mit deutlich geringerer Geschwindigkeit nach Gleis 507 eingefahren. Das ermöglichte dem Triebfahrzeugführer des ICE letztendlich, seinen Triebzug vor dem noch im Gleis stehenden hinteren Zugteil der Regionalbahn anzuhalten.
Die BEU gibt aufgrund des Vorfalls eine Sicherheitsempfehlung aus, in der es heißt: “Die Sicherheitsbehörde sollte das betriebliche Regelwerk der DB Netz AG hinsichtlich des Themas „Abschnittsprüfung“ auf dessen Anwendungssicherheit überprüfen und ggf. auf Änderungen hinwirken, die etwaige Fehlinterpretationen durch den Anwender möglichst ausschließen.”
red