Bayerische Staatskanzlei wegen Stammstrecken-Kommunikation unter Erklärungsdruck


MÜNCHEN | Es ist ein Kernvorwurf der Opposition: Markus Söder habe früh vom Münchner Stammstrecken-Debakel gewusst, aber nicht gehandelt. Wegen eines Aktenvermerks sieht sich die Opposition darin nun bestätigt.

Die bayerische Staatskanzlei gerät wegen der Kommunikation rund um die Kostenexplosion und die Verzögerungen bei der zweiten Münchner S-Bahn-Röhre weiter unter Erklärungsdruck. Anlass ist ein Aktenvermerk vom 23. Dezember 2020, in dem es um den damaligen „aktuellen Sachstand“ bei der zweiten Stammstrecke geht. Die „derzeitige politische Linie“ der Staatskanzlei sehe eine „dilatorische Behandlung“ bis nach der Bundestagswahl vor, heißt es in dem Vermerk eines Mitarbeiters, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt und über den zuvor die Süddeutsche Zeitung berichtet hatte. „Dilatorisch“ bedeutet „aufschiebend“ oder „verzögernd“.

Der Aktenvermerk bietet deshalb Vorwürfen der Opposition neue Nahrung, die Staatskanzlei von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) habe das Thema Stammstrecke bewusst aus dem Bundestagswahlkampf heraushalten wollen, auch um mögliche Kanzler-Ambitionen Söders nicht zu gefährden. Tatsächlich heißt es in dem Vermerk auch, die Probleme bei der zweiten Stammstrecke seien „kein Gewinnerthema im Wahlkampf“.

In dem Aktenvermerk ist bereits von einer Verzögerung um sechs Jahre und einer Kostensteigerung auf mindestens 5,2 Milliarden Euro die Rede – wobei betont wird, dass es noch keine zwischen Bahn, Bund und Freistaat abgestimmte Datengrundlage gebe. Dem Vernehmen nach halte die Bahn „eine belastbare Aussage zu den Kosten“ erst Ende 2021 für möglich. In dem Vermerk wird deshalb abgewogen, ob das Thema dennoch sofort aktiv angegangen werden sollte oder nicht. Dazu heißt es: „Es ist politisch zu entscheiden, ob an der dilatorischen Vorgehensweise festgehalten wird.“ Ganz am Ende hat aber jemand noch handschriftlich hinzugefügt: „Vermerk scheint noch überarbeitungsbedürftig.“

Die Staatskanzlei erklärte auf Anfrage am Freitag: „Potenzielle persönliche Wertungen auf Mitarbeiterebene werden grundsätzlich nicht kommentiert.“ Wie bereits mehrfach festgestellt und auch öffentlich dokumentiert habe sich die Deutsche Bahn „trotz wiederholten Nachhakens der Staatsregierung erst Ende September 2022 abschließend und offiziell zu Kosten und Zeitdauer beim Bau der Stammstrecke geäußert. Bis dahin lagen keinerlei Aussagen vor, die eine verlässliche Einschätzung über Kosten und Zeitdauer beim Bau der zweiten Stammstrecke hätten ermöglichen können“, sagte ein Sprecher.

Scharfe Kritik kam dagegen von Grünen und SPD. „Nun sehen wir es schwarz auf weiß: Ministerpräsident Söder hat das Thema 2. Stammstrecke offenbar aus wahltaktischen Gründen über zweieinhalb Jahre bewusst verschleppt“, sagte der verkehrspolitische Sprecher der Landtags-Grünen, Markus Büchler. „Unsere bereits früh geäußerte Vermutung, dass Söder davon schon seit langem gewusst haben muss, ist jetzt schriftlich belegt durch diesen Vermerk der Staatskanzlei.“ Das sei ein echter politischer Skandal – es müssten jetzt auch die rechtlichen Konsequenzen geprüft werden. Denn Söder hätte damals angesichts der „krassen Kostenexplosion die Notbremse ziehen müssen“.

Inge Aures (SPD) sagte, aus den Unterlagen sei deutlich zu erkennen, dass die Staatskanzlei aus rein politischem Kalkül gehandelt habe. „Immer, immer wieder wird darin davor gewarnt, dass dieses Thema in den Wahlkampf gezogen werden könne, und das müsse vermieden werden.“ Söder habe davon gewusst, und auch der frühere Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sei Teil dieses Plans gewesen, kritisierte sie. „Die Steuerzahler haben ein Recht auf vollständige Aufklärung.“

Ein Staatskanzlei-Sprecher sagte zu dem Oppositions-Vorwurf, die Staatskanzlei habe Söders Wahlaussichten nicht schmälern wollen: „So eine Behauptung klingt schon fast nach Verschwörungstheorien.“

Mit dem Stammstrecken-Debakel befasst sich aktuell auch ein neuer Untersuchungsausschuss im Landtag. Dort soll es unter anderem um die Frage gehen, seit wann die Staatsregierung von den Kostensteigerungen und Terminverzögerungen wusste, ob und was sie dagegen unternommen hat und warum die Öffentlichkeit erst spät informiert wurde.

Die zweite Stammstrecke, die das bisherige Nadelöhr im S-Bahn-Verkehr der gesamten Region entlasten soll, wird nach neuen Schätzungen der Deutschen Bahn rund sieben Milliarden Euro kosten und soll bis 2035 fertig gestellt sein. Ursprünglich hatten die Planungen 3,85 Milliarden Euro und eine Fertigstellung im Jahr 2028 vorgesehen.


dpa