Nach Rauswurf von Rollstuhlfahrerin aus ICE – ISL kritisiert mangelnde Barrierefreiheit bei der Bahn


BERLIN | Anfang August sorgte der Rauswurf einer Rollstuhl­fahrerin aus einem ICE für einiges an Aufsehen. Die Betroffene kritisierte dabei auch die Deutsche Bahn im Umgang mit mobilitäts­eingeschränkten Reisenden.

Fahrgäste, die beispielsweise auf einen Rollstuhl angewiesen sind, können den Service der Mobilitäts­zentrale der Deutschen Bahn nutzen. Eine Reise muss hier jedoch mindestens 24 Stunden vor Abfahrt angekündigt werden. Ein spontanes Verreisen ist damit nur in begrenztem Umfang möglich. Und wenn bei der Bahn kein Service­personal zur Verfügung steht, kann eine Mitnahme auch abgelehnt werden.

Die Interessen­vertretung Selbst­bestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) erklärte auf Nachfrage, dass viele ICE-Züge der Deutschen Bahn zu wenig Rollstuhl­plätze hätten. Eine Ausnahme sei hier der ICE 4 – dort gebe es vier Stellflächen. Auch seien die meisten Fernzüge bislang nicht stufenlos zugänglich. Davon sei die Bahn mit Blick auf die aktuelle ICE-Flotte „noch weit entfernt“, sagte ISL-Sprecher Alexander Ahrens.

Der Verein kritisiert auch den Kauf der neuen Hochgeschwindig­keitszüge vom Typ ICE 3 neo, die erneut weniger Platz aufwiesen. Damit würden die Barrieren im Fernverkehr „für weitere 30 bis 40 Jahre“ zementiert, fügte er hinzu. Nach Ansicht der Interessen­vertretung stelle dies eine Verschlechterung da, was die UN-Behinderten­rechts­konvention verbiete. „Dagegen wollen wir und andere Verbände wenn es sein muss klagen. Derzeit läuft ein Schlichtungs­verfahren. Alle neu eingekauften Züge haben barrierefrei zu sein“, sagte Ahrens.

„Die fehlende Barriere­freiheit im öffentlichen Verkehr wird immer nur zum Problem der behinderten Menschen gemacht.“ Es sei aber ein gesamt­gesellschaftliches Problem, so der ISL-Sprecher weiter. Auch eine barrierefreie Zugtoilette, die defekt sei, könne dazu führen, dass eine Beförderung von Rollstuhl­­fahrern durch das Zug­personal abgelehnt wird.

Seit der Einführung des 9-Euro-Tickets sei der Mobilitäts­service der Bahn noch stärker belastet als früher. Dieser Service sei „das Ergebnis der fehlenden Barriere­freiheit bei der Bahn und kann darüber entscheiden, ob eine Reise angetreten werden darf oder nicht“, bemängelte Ahrens. Er bezeichnete den Mobilitäts­service gar als „Krücke“, die den „desolaten Zustand“ in punkto Barriere­freiheit nach Ansicht des ISL „nur kaschieren soll“.

Nach Angaben des ökologischen Verkehrs­clubs Deutschland (VCD) gibt es bislang keine umfassende und systematische Erfassung, mit welchen größeren Problemen mobilitäts­eingeschränkte Menschen zu kämpfen hätten. Oft höre man nur von Einzelfällen, sagte Bastian Kettner, Sprecher für Bahn, ÖPNV und Multi­modalität des VCD.

Schwierigkeiten, die bereits für alle übrigen Reisenden ärgerlich sind, seien für Betroffene mit Mobilitäts­einschränkung oft nicht zu bewältigen. Hierzu zählten unter anderem kurzfristige Gleiswechsel in Bahnhöfen, defekte Aufzüge an Bahn­steigen oder eine geänderte Wagen­reihung. Damit werde bereits der Weg zum Zug zu einem unüberwind­baren Hindernis. Eine weitere Hürde seien hin und wieder ebenso die unterschiedlichen Bahnsteig­höhen.

Auch Andreas Frank, Sprecher von Pro Bahn, erklärte auf Nachfrage, dass man nicht pauschal sagen könne, dass immer alles schlecht sei. Viel mehr würden viele Reisen von behinderten Menschen auch ohne Komplikationen ablaufen. Ein Problem sei allerdings, wenn sich Züge verspäten und mehrere Personen zeitgleich auf den Mobilitäts­service am Bahnsteig angewiesen sind. Dann komme es unter Umständen zu Überschneidungen – und an einer Stelle fehle dann das Personal.

Laut Frank, der sich bei Pro Bahn um das Thema Fahrgastdialog kümmert, seien die Mitarbeitenden der Bahn in der Regel sehr bemüht, eine gute Reise zu ermöglichen. Die Beförderung von Menschen mit Mobilitäts­einschränkung ist ein Service, den die Verkehrs­unternehmen ohne Zusatzkosten anbieten.

Weil nicht selten kaputte Aufzüge für Hindernisse sorgten, sprachen sich sowohl Pro Bahn als auch der VCD für mehr Rampen an Bahn­steigen aus. Diese seien eine gute Alternative und zudem verlässlicher, da sie von technischen Störungen unabhängig nutzbar seien. Wie Frank erläuterte, seien die Anschaffungs­kosten – die bei der Planung eine entscheidende Rolle spielten – für Aufzüge allerdings oft niedriger als der Bau von Rampen.

Allein im vergangenen Jahr organisierte die Mobilitäts­service-Zentrale (MSZ) der Deutschen Bahn insgesamt 637.000 Hilfestellungen (durchschnittlich etwa 1.745 pro Tag). Das teilte eine Bahnsprecherin auf Nachfrage mit. Sie verwies zudem darauf, dass die Bahn viel unternehme, um mobilitätseingeschränkten Menschen eine selbstbestimmte Reise zu ermöglichen. Dafür würden unter anderem 16 mobile Teams an etwa 40 dezentralen Bahnhöfen bereitstehen. Auch habe man mehr als 1.100 mobile Hubgeräte, Rampen, Treppenlifte und Elektromobile, die den Ein- und Ausstieg am Bahnsteig erleichterten.

Unter anderem investierte der Staats­konzern eigenen Angaben zufolge 2021 rund 1,6 Milliarden Euro, um Bahnhöfe neuzubauen oder zu modernisieren. Mittlerweile seien 79 Prozent der rund 5.700 Personen­bahnhöfe stufenfrei erreichbar, so die Sprecherin. Für eine weitere Erleichterung sollen zudem die neuen ICE L-Züge sorgen, die vom spanischen Hersteller Talgo gebaut werden – der Fahrgast­einsatz ist ab Ende 2023 geplant. Die 23 bestellten Fernverkehrs­züge würden „neue Maßstäbe“ setzen, da sie einen besonders kunden­freundlichen stufenlosen Einstieg bei Bahnsteigen mit einer Höhe von 76 cm böten, wie es hieß. Barrierefrei zugänglich seien bereits heute schon die Züge der Intercity-2-Flotte. Deren Bestand wuchs 2020 um 19 weitere Fahrzeuge, so die Bahnsprecherin.

Anfang Mai fand am Brandenburger Tor in Berlin eine Protestaktion von Betroffenen statt. Die Teilnehmer warfen der Bahn vor, Menschen mit Behinderung zu diskriminieren. Aus ihrer Sicht müsse die Bahn noch deutlich mehr tun als bereits heute umgesetzt.

Auch die Rollstuhl­fahrerin und Umwelt­aktivistin Cécile Lecomte, die am 1. August einen ICE verlassen musste, hatte die Deutsche Bahn während ihrer Zugfahrt lautstark kritisiert. Ein anschließender Streit um zu wenig Platz, führte schließlich zum Beförderungs­ausschluss der Frau durch Beamte der Bundespolizei. Bahnblogstelle hatte über den Vorfall ausführlich berichtet.

Rauswurf von Rollstuhlfahrerin – Deutsche Bahn: „Aggressive Stimmung“ im ICE


EVN | Foto: DB AG / Pierre Adenis