Baikal-Amur-Magistrale – Russlands Schienenweg gen Osten


MOSKAU | Die Baikal-Amur-Magistrale war ein Prestigeobjekt der Sowjetunion. In den 90er Jahren verfiel der Schienenweg. Nun erlebt die Bahn einen neuen Boom – auch dank Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Eine Explosion mitten in Russlands längstem Tunnel machte im vergangenen Spätherbst Schlagzeilen. Die russische Bahn gab nur wenige Details bekannt, doch spätestens als kurz darauf ein zweiter Güterzug in einem Nebentunnel in Brand geriet und das russische Ermittlungskomitee ein Verfahren wegen eines Terroranschlags einleitete, wurde klar: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch weit im eigenen Hinterland angekommen.

Genauer gesagt bei der BAM, der Baikal-Amur-Magistrale, Russlands zweitwichtigstem Schienenweg nach der Transsib. Die mehr als 4000 Kilometer lange Strecke verläuft von Ostsibirien bis in Russlands Fernen Osten. Der Explosionsort im Seweromuisker Tunnel liegt etwa 5000 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.

Dass es einmal so weit kommen würde, war vor 50 Jahren nicht abzusehen, als am 8. Juli 1974 das Politbüro und die sowjetische Regierung die Entscheidung zum Bau des wichtigen Infrastrukturprojekts verabschiedeten. Die Sowjetunion galt als zweite Supermacht neben den USA, ein Zerfall des Landes – und ein anschließender Krieg zwischen den Nachfolgestaaten undenkbar. Die BAM sollte vielmehr eine Absicherung der Transsib sein, die nah an der Grenze zu China verlief – die Beziehungen damals waren nicht ganz reibungslos.

Der Plan zur Errichtung einer zweiten Eisenbahnlinie durch Sibirien nördlich vom Baikalsee ist dabei schon wesentlich älter. Schon vor der Revolution gab es erste Ideen dazu. Sowjetdiktator Josef Stalin hatte sogar schon 100.000 Strafgefangene in Arbeitslager (Gulag) entlang der künftigen Strecke schicken lassen, doch wegen des Beginns des Zweiten Weltkriegs wurde das Projekt bis auf eine kleine Teilstrecke am Pazifischen Ozean nicht verwirklicht. Die bereits verlegten Gleise wurden teilweise wieder abgerissen und an anderen Stellen verwendet.

Doch Mitte der 1970er Jahre war die Strecke wieder aktuell. Die Sowjetführung machte sogar ein Prestigeprojekt daraus, um nach dem Wettlauf ins All einmal mehr die Leistungsfähigkeit des Sozialismus zu demonstrieren. Begleitet von großangelegter Propaganda wurde die BAM zu einer Super-Baustelle über Tausende Kilometer. Die kommunistische Jugendorganisation Komsomol warb Zehntausende junger Menschen für den Bau an. Gelockt wurden sie mit Aufstiegsmöglichkeiten, hohen Löhnen und Erzählungen vom Abenteuer und Romantik an der Trasse. So schrieb der im Ostblock bekannte US-Rock- und Folksänger Dean Reed ein Lied über die BAM.

Daneben wurden aber viele Arbeiter auch einfach zu ihrem neuen Einsatzort befohlen – insbesondere bei den Eisenbahntruppen, denen die schwierigsten Abschnitte im Fernen Osten zugeordnet waren. Mit den widrigen klimatischen Bedingungen hatten alle zu kämpfen. Speziell die harten langen und schneereichen Winter, in denen die Temperaturen bis zu minus 58 Grad abgefallen sein sollen, machten den Bauarbeitern und später den Eisenbahnern beim Betrieb zu schaffen. Auch Lawinen waren in den Bergen eine Gefahr.

Das ganze Land baute an der BAM mit, ja selbst aus anderen Ostblockstaaten kamen viele Arbeiter. Die DDR entsandte Brigaden über den kommunistischen Jugendverband FDJ in die Sowjetunion. Anlagen und Gerät für den Bau wurden wiederum im kapitalistischen Ausland gekauft, darunter auch etwa 10.000 Lkw aus Deutschland.

Tatsächlich gelang es, das aus technischer Sicht hoch komplizierte Projekt praktisch pünktlich abzuschließen. Im Herbst 1984 wurden Ost- und Westteil der Trasse bei der Station Balbuchta in der Region Transbaikalien miteinander verbunden. Mehr als 3000 Brücken hatten die Arbeiter gebaut, riesige Ströme wie die Angara, die Lena und den Amur gequert, lange Tunnel durch Hochgebirge gegraben. Bei klirrender Kälte rammten sie Pflöcke in den Permafrostboden, im Sommer trotzten sie der Mückenplage in den Sümpfen.

Doch durchgehend befahrbar war die BAM trotzdem erst 1989. Sie wurde zur Unzeit fertig, denn die Sowjetunion und ihr Nachfolger Russland taumelten in eine tiefe Krise. Das Großprojekt Nummer 1, für das Parteichef Leonid Breschnew seinerzeit weder Kosten noch Ressourcen scheute, war auf einmal überdimensioniert und scheinbar unnütz. Die Erschließung der Rohstofflager Ostsibiriens stockte wegen Geldmangels. Der Traum von einem neuen Boom, einer Industrialisierung Ostsibiriens und wachsenden Städten entlang der BAM – er war ausgeträumt.

In den 1990er Jahren brachte die BAM der russischen Eisenbahn riesige Verluste ein, die teilweise im dreistelligen Millionenbereich pro Jahr lagen. Nur wenige Züge pro Tag fuhren über die großteils noch einspurige und nicht elektrifizierte Strecke. Viele Ortschaften entlang der Strecke verödeten. Die Menschen flüchteten vor Arbeits- und Perspektivlosigkeit.

Und doch gaben die Eisenbahner nicht auf. So gelang es ihnen, 2003 den buchstäblich größten Brocken auf der Strecke zu durchbrechen: Das Seweromuisker Gebirge wurde mit dem gleichnamigen Tunnel durchstoßen. Technisch ist der Tunnel eine Meisterleistung: Mehr als 15 Kilometer lang durch schwierigste Gesteinsschichten und in erdbebengefährdetem Gebiet wurde er gegraben. Damit konnte eine mehr als 60 Kilometer lange Umgehungsstrecke ersetzt werden. Die galt wegen ihrer Serpentinen und teilweise großen Gefälle als so gefährlich, dass die Lokführer einer Brücke sogar den Namen Teufelsbrücke verpassten.

Und auch die Strecke erwachte langsam wieder zum Leben. Die Nachfrage nach russischen Rohstoffen in Asien stieg. Vor allem Kohle wurde auf der Route befördert, neue Lagerstätten an die Strecke angeschlossen. Nach 2010 stieß die BAM schnell an ihre Kapazitätsgrenze von 55 Millionen Tonnen Gütern pro Jahr. Ein Ausbau musste her und wurde beschlossen. Zeitweise gab es sogar Pläne für den Bau einer privaten Konkurrenzbahn, doch am Ende siegten strategische Erwägungen. Schließlich wird in Moskau auch stets auch in militärischen Dimensionen gedacht.

So hat der von Kremlchef Wladimir Putin befohlene Krieg gegen die Ukraine die Tendenz beschleunigt. Während der Westen Sanktionen gegen Moskau verhängt hat, nehmen China und Indien im Osten dankend die verbilligten Rohstofflieferungen – speziell Öl und Kohle – an. Vieles wird auf dem Schienenweg zu den russischen Pazifikhäfen gebracht, wo es dann weiter verfrachtet wird. Auf der Gegenspur ist militärisches Gerät Richtung Ukraine unterwegs.

Die Pläne für die BAM sind daher gigantisch: Bis Jahresende soll die Strecke auf eine Kapazität von 180 Millionen Tonnen ausgebaut werden. Bis 2030 auf 240 Millionen Tonnen und bis 2040 gar auf 280 bis 300 Millionen Tonnen. Und erneut beordert Russland Studenten zum Ausbau der Strecke an die BAM.

Wegen der fehlenden Gastarbeiter aus den zentralasiatischen Republiken belebt die Bahn zudem eine weitere fragwürdige Praxis aus Sowjetzeiten wieder: Die Gefängnisbehörde bietet Häftlinge für den Bau an. Auch wenn die Bahn vernünftige Arbeitsbedingungen verspricht, schließt sich damit gewissermaßen der Kreis der BAM, die von Gulag-Arbeitern begonnen wurde.


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dpa