Systembedingtes Wegschauen? – Desaster lange unter Radar des Bahn-Vorstands


MÜNCHEN | Ein milliardenschweres Großprojekt und ein Konzernvorstand, der eine Kostenexplosion lange Zeit nicht mitbekommt: Bei der Deutschen Bahn ist das offenbar systembedingt. Aus guten Gründen, wie der DB-Chef argumentiert. Eines kann er sich allerdings partout nicht vorstellen.

Die zweite Münchner S-Bahn-Stammstrecke gehört zu den größten Bauvorhaben der Deutschen Bahn bundesweit – dennoch hat der Vorstand nach eigenem Bekunden über Jahre hinweg nicht erfahren, dass die Kosten und der Zeitplan völlig aus dem Ruder laufen. Erst ein Schreiben von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), wann der Freistaat als Auftraggeber denn endlich konkrete Zahlen bekäme, habe ihn im März 2022 auf Probleme bei dem Projekt aufmerksam gemacht, sagte Bahn-Chef Richard Lutz am Freitag im Untersuchungsausschuss Stammstrecke im bayerischen Landtag.

Dass die internen Projektverantwortlichen den Vorstand nicht vorher über die absehbare Kostenexplosion und die jahrelange Verzögerung bei der Inbetriebnahme informierten, verwunderte Lutz allerdings nicht: Man habe bei der Bahn intern wie extern die Philosophie, keine Zwischenstände, sondern nur gesicherte Zeit- und Kostenpläne zu kommunizieren. Und bei der zweiten Stammstrecke hätten diese Zahlen nach den umfangreichen Projekterweiterungen im Jahr 2019 eben erst im September 2022 vorgelegen.

Damals wurde die überraschte Öffentlichkeit darüber informiert, dass die Kosten für die zweite zentrale S-Bahn-Strecke durch die Münchner Innenstadt von 3,85 Milliarden auf rund 7 Milliarden Euro plus Inflationszuschlag steigen werden und sich die Inbetriebnahme von 2028 auf 2035 bis 2037 verzögern wird. „Eine frühere Information von Arbeitsschritten wäre weder sinnvoll noch möglich gewesen und hätte der Glaubwürdigkeit der DB AG geschadet“, argumentierte Lutz.

Deshalb habe auch der Vorstand selbst zwischen 2019 und 2022 in den jeweiligen Quartalsberichten keine Zwischenstände erhalten. Erst im zweiten Quartal 2022 bekam das Gremium zumindest eine Hausnummer genannt. „Dass wir da nicht über kleine Beträge reden, sondern große, dass war zumindest von der Größenordnung her klar“, schilderte Lutz.

Zu dieser Zeit habe er sich im Rahmen eines Spitzengespräches im Juli 2022 unter anderem mit Söder erstmals intensiver mit der zweiten zentralen S-Bahn-Strecke durch die Münchner Innenstadt befasst. Ihm sei auch nicht bewusst gewesen, dass das Bauministerium schon lange Zeit verärgert war, weil es sich vergeblich um Zahlen von der Bahn bemüht hatte, antwortete er auf entsprechende Fragen im Ausschuss.

Und dass sein zuständiger Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla ihm nichts von einem – je nach Schilderung – sehr hitzigen Gespräch samt anschließendem Schriftwechsel mit der damaligen bayerischen Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU) berichtet habe, nachdem diese im Oktober 2020 erstmals von einer mehrjährigen Verzögerung erfuhr, verwundere ihn ebenfalls nicht. Pofalla, der ebenfalls bereits vor dem Untersuchungsausschuss erscheinen musste, habe eine große „emotionale Amplitude“ und empfinde „Situationen, die andere als schwierig beschreiben, als normale Unterhaltung“.

Einen internen Vermerk der Staatsregierung vom November 2021, wonach Pofalla – der vor seinem Posten bei der Bahn ein CDU-Spitzenpolitiker war – vorgeschlagen habe, der Öffentlichkeit „aus taktischen Gründen“ Kosten von unter 6 Milliarden Euro und eine Inbetriebnahme zwischen 2034 und 2036 zu nennen, hielt Lutz für abwegig. „So agieren wir auch nicht.“ Kostensteigerungen, die die Bahn kenne, halte sie nicht unter dem Deckel.

„Wir haben auf unserer Seite nie auf Zeit gespielt“, betonte Lutz. „Wir haben allerdings sehr wohl das Thema Sorgfalt und Planungstiefe sowie Härte- und Reifegrad immer höher gewichtet als Schnelligkeit.“ Entsprechend habe auch er persönlich keine Zahlen auf politischen Druck hin unter Verschluss gehalten.


dpa / EVN