KIEW | Knapp acht Monate nach Kriegsbeginn kehren zunehmend Ukrainer in ihre Heimat zurück. Darunter sind auch Menschen, die in Deutschland Zuflucht gesucht haben. Doch jüngste Angriffe zeigen: Sicher sind sie vor Putins Krieg in der Ukraine nirgendwo – nicht mal in Kiew.
Agata und ihre Tochter Lisa wissen noch nicht, dass sie mitten in den Raketenbeschuss fahren. Fünf Tage bevor Kremlchef Wladimir Putin die Ukraine erstmals seit Monaten wieder großflächig angreifen lässt, sitzen die beiden Frauen im Nachtzug aus der polnischen Hauptstadt Warschau nach Kiew. “Meine Ukraine, ich komme wieder”, sagt Mutter Agata und lächelt. Lisa wiederum ist 16 Jahre alt, hat sich in Polen gerade eingelebt, Gleichaltrige gefunden, einen festen Freund sogar. Eigentlich wäre sie lieber geblieben. “Lass mich in Ruhe, ich will schlafen.” Sie krabbelt auf die oberste von insgesamt drei Pritschen in dem engen Zugabteil und schaut demonstrativ aufs Handy.
Mutter und Tochter sind am 25. Februar – einen Tag nach dem russischen Einmarsch – geflohen. Erst ins südwestlich gelegene Uschhorod, von dort weiter zu Fuß in die Slowakei, dann nach Polen. Nun steht der allererste Heimatbesuch seit Kriegsbeginn an. Wie lange sie bleiben wollen? “Mal sehen”, sagt Agata. In Kiew warten Mann und Sohn. Beide dürfen wegen des Kriegsrechts nicht ausreisen.
Agata spricht ausschließlich Ukrainisch. Russisch verstehe sie zwar, das Sprechen habe sie aber mittlerweile verlernt, sagt sie. “Sie lügt”, lacht Lisa von der Schlafpritsche herab. “Sie will nur nicht.” Der Zug fährt durch die Natur, draußen rauschen herbstlich bunte Bäume vorbei, langsam dämmert es.
Agata schaut zum Zeitvertreib Videos in sozialen Netzwerken, die ukrainische Soldaten beim Versuch zeigen, das besetzte Gebiet Cherson im Süden des Landes zurückzuerobern. Dann werden tote Russen im kürzlich befreiten Lyman im Donezker Gebiet eingeblendet. “Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage, aber ich empfinde Freude, wenn ich tote russische Soldaten sehe”, sagt Agata. “Sie haben so viel Schreckliches über unser Land gebracht, sie töten, sie rauben.”
Knapp acht Monate ist es her, dass russische Truppen die Ukraine überfielen. Die Vereinten Nationen haben seitdem mehr als 6200 getötete und knapp 9.400 verletzte Zivilisten registriert, gehen aber von noch deutlich höheren Opferzahlen aus. Kiew wirft Moskau Völkermordabsichten vor.
Trotz der Gefahrenlage kehren zunehmend Ukrainer dauerhaft zurück in Gebiete, die als verhältnismäßig sicher gelten. Andere, wie Agata und Lisa, kommen auf Besuch vorbei – um den Ehemann zu sehen oder die kranken Eltern, oder um zu schauen, ob das eigene Haus noch steht.
Insgesamt vier Millionen Menschen aus besonders umkämpften Gebieten seien in den vergangenen Monaten mit speziellen Evakuierungszügen an sicherere Orte im In- und Ausland gebracht worden, teilt die ukrainische Eisenbahn auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. “Seit den ersten Kriegstagen ist die ukrainische Eisenbahn ein Rückgrat für den Widerstand des Landes geworden.”
Seit mehreren Monaten sei nun eine verstärkte Heimkehr in die Ukraine zu beobachten, teilt das Staatsunternehmen mit. Statistiken aber gebe es nicht, weil die Rückkehrer mit regulären Zügen reisten.
Auch in Deutschland gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele ukrainische Geflüchtete das Land bereits wieder verlassen haben. Eine größere Rückkehrwelle war aber etwa zu Schulbeginn Anfang September feststellbar. Damals war in Flüchtlings-Chat-Gruppen viel darüber diskutiert worden, ob eine Rückkehr für die Kinder wichtig und in Anbetracht der Kriegsgefahren auch zu verantworten sei.
Unter dem Strich aber steigt die Zahl der Ukrainerinnen und Ukrainer, die in Deutschland Zuflucht suchen, weiter an – wenn auch nicht mehr so rasch wie in den ersten Kriegsmonaten. Anfang August waren im Ausländerzentralregister 944.000 ukrainische Flüchtlinge erfasst – im Vergleich zu 819.000 Menschen Anfang Juni.
Untersuchungen zeigen, dass die Solidarität und Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung immer noch groß ist, wenn auch etwas geringer als noch im Frühjahr. Das mag mit praktischen Problemen wie fehlenden Schul- und Kita-Plätzen und den allgemein gestiegenen Lebenshaltungskosten in Deutschland zusammenhängen. Es gibt aber auch direkte Angriffe auf Ukrainer. Für besonderes Entsetzen sorgte etwa kürzlich ein Video aus Leipzig. Zu sehen ist, wie Teilnehmer einer Demonstration gegen Russland-Sanktionen Menschen mit Ukraine-Fahnen am Straßenrand beschimpfen und “Nazis raus” rufen.
Im Zug von Warschau nach Kiew sind am Morgen alle etwas zerknautscht. Die Kontrollen an der Grenze haben in der Nacht insgesamt rund vier Stunden gedauert. Der Schaffner bringt Kaffee. Agata trägt knallroten Lippenstift auf. Ob Lisa und sie sich noch eben für den Artikel fotografieren lassen würden? Der Zug nähert sich bereits dem Kiewer Hauptbahnhof. “Natürlich”, sagt Agata. “Aber warte, da muss noch etwas Ukrainisches ins Bild.” Sie holt einen geblümten Schal und legt ihn sich um den Hals. “So, jetzt.”
Das Foto ist gerade im Kasten, da rollt der Zug ein – und Lisa wird auf einen Schlag ganz aufgekratzt. “Papa, Papa!”, ruft der eben noch recht mürrische Teenager euphorisch. Sie hat den Vater auf dem Bahnsteig entdeckt. In der Hand hält er einen Strauß voller blauer und gelber Blumen – die Farben der ukrainischen Flagge. “Papa, hallo! Mein Gott, ist er blind geworden? Er sieht uns nicht mal!” Lisa wedelt mit den Armen, sprintet als eine der ersten aus dem Zug.
Am darauffolgenden Montag beschießt die russische Armee weite Teile der Ukraine mit insgesamt mehr als 80 Raketen – erstmals seit Kriegsbeginn auch das Zentrum von Kiew. Alleine in der Hauptstadt sterben mehr als ein Dutzend Menschen, landesweit sind es rund 20. Genau eine Woche später schlagen mehrere Kamikaze-Drohnen in Kiew ein. Wieder gibt es Tote und Verletzte. Zwischen den Angriffen meldet Lisa sich auf WhatsApp: “Entschuldige, dass ich erst jetzt antworte. Uns geht es gut, danke!”