Ein ÖPNV-“Sommermärchen”? Chancen und Risiken des 9-Euro-Tickets


BERLIN / BREMEN | Es ist ein großer Feldversuch, wie es Bundesverkehrsminister Volker Wissing nennt. Sorgen günstigere Tickets für einen Ansturm auf Busse und Bahnen?

Das Auto mal stehen lassen, mit dem Bus zur Arbeit, per Regionalexpress übers Wochenende weg oder in den Urlaub. Steht Deutschland vor einem „ÖPNV-Sommermärchen“? Das ist zumindest das Ziel der Bundesregierung mit dem 9-Euro-Monatsticket ab Juni. Bund und Länder streiten aber noch ums Geld – das Scheitern eines Finanzpakets, in dem auch die Mittel für das Ticket enthalten sind, ist weiter möglich. Viele Fahrgäste wollen aber vermutlich eher wissen, ob aus dem geplanten Sommermärchen nicht ein Albtraum wird, weil Züge brechend voll werden könnten. Ein Überblick:

Wann kommt das Ticket, wo kann man es nutzen?

Ab Anfang Juni bis Ende August sollen Fahrgäste bundesweit für 9 Euro pro Monat im Nah- und Regionalverkehr in der zweiten Klasse fahren können. Ausgenommen sind der Fernverkehr der Deutschen Bahn AG, also zum Beispiel ICE oder IC. Das Ticket soll online erhältlich sein, dazu soll es auch eine gemeinsame Online-Plattform der Verkehrsunternehmen geben. Kunden sollen es aber auch über Fahrkartenautomaten und Schalter kaufen können. Bei den Leipziger Verkehrsbetrieben startet der Vorverkauf ab dem 23. Mai, bei anderen heißt es Ende Mai. Wer ein Abo besitzt – das deutlich teurer als 9 Euro ist -, bekommt den Differenzbetrag ausgeglichen.

Wie groß ist das Interesse am 9-Euro-Ticket?

Die Mehrheit steht dem Ticket einer Umfrage zufolge positiv gegenüber. 33 Prozent gaben an, damit Bus oder Bahn fahren zu wollen, 22 Prozent wollen das nach eigener Aussage „wahrscheinlich“ tun, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der dpa ergab. 51 Prozent der Befragten gaben an, mit dem Ticket vor allem touristische Ausflüge machen zu wollen. Mehr als ein Drittel der Befragten wollen das Ticket nicht nutzen.

Wie groß ist die Gefahr überfüllter Züge?

Vor allem auf beliebten touristischen Strecken könnte es zu vollen Zügen und überlasteten Bahnhöfen kommen – kurz nach dem Start des Tickets ist das lange Pfingstwochenende. Züge und Personal seien knapp, so etwa der Bahn-Betriebsrat. Schon zu heutigen Preisen seien an sonnigen Wochenenden die Züge von den Großstädten zu touristischen Zielen stark besetzt und zum Teil übervoll, sagte Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbands Pro Bahn. Er nannte die Strecken von Berlin an die Ostsee, von Hamburg nach Sylt und von München in die Alpen. Ohne zusätzliche Regionalzüge seien „chaotische und abschreckende Zustände“ zu erwarten.

Die Verkehrsverbünde, die für Länder und Kommunen Regionalzugfahrten bei der Deutschen Bahn und anderen bestellen, hatten erklärt, an Aktionsplänen zu arbeiten, um Personalverstärkungen und zusätzliche Fahrzeugkapazitäten im Zeitraum des Tickets zu ermöglichen – mit besonderem Fokus auf Wochenenden und touristische Regionen.

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen erklärte, es sei für die Firmen nur in geringem Umfang möglich, für zusätzliche Kapazitäten zu sorgen. Die Verkehrsunternehmen und -verbünde würden alles auf Schienen und Straßen mit Bus und Bahn bringen, was möglich sei. „Dazu werden Reserven aktiviert, die aber nicht in einer nennenswerten Größenordnung sind.“

Bei den Kölner Verkehrs-Betrieben zum Beispiel heißt es auf der Webseite, es werde in Bahnen und Bussen wahrscheinlich wieder voller werden in den drei Monaten, in denen das 9-Euro-Ticket gelte. „Allerdings findet die Aktion in den Sommermonaten statt, in denen ohnehin weniger Fahrgäste mit Bus und Bahn unterwegs sind.“ Aufgrund der Pandemie seien die Fahrzeuge auch noch nicht so voll wie vorher. Beim Münchner Verkehrs- und Tarifverbund ist zu lesen, eine Erhöhung der Kapazitäten werde nur sehr eingeschränkt möglich sein. „Deshalb ist zu erwarten, dass auf einigen Strecken auch zu Überbesetzungen kommen kann.“

Was passiert nach der Aktion?

Das ist die große Frage – und darum geht es im Kern auch im Finanzstreit zwischen Bund und Ländern. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sagte am Donnerstag in Bremen nach einer Konferenz der Verkehrsminister der Länder und des Bundes, nach dem „schönen Sonderangebot“ dürften die Tarife nicht durch die Decke schießen. Genau deswegen kämpften die Länder um eine dauerhaft bessere Finanzierung des Nahverkehrs.

Denn das Ziel des günstigen Tickets ist es auch, neue Kunden bei der Stange zu halten. Weil Energie- und Personalkosten gestiegen sind, wollen die Länder in diesem Jahr vom Bund 1,5 Milliarden Euro zusätzliche Regionalisierungsmittel. Das sind Gelder, die der Bund den Ländern jährlich zur Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs zur Verfügung stellt.

Das aber lehnt der Bund ab, wie Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) erneut deutlich machte. Zum einen gebe es Entlastungspakete der Koalition. Zum anderen fordert Wissing Strukturreformen und mehr Transparenz bei der Verwendung der Mittel. Zur Zukunft des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sollen im Herbst Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgelegt werden.

Unklar ist, ob die Länder in zwei Wochen ein Finanzpaket im Bundesrat wirklich scheitern lassen, in dem auch Mittel des Bundes für das 9-Euro-Ticket enthalten sind. Die Bremer Verkehrssenatorin Maike Schaefer (Grüne) als Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz sagte, die Länder wollten einen Erfolg des 9-Euro-Tickets. Wie Hermann machte sie klar, dass die Länder auf die Ampel-Fraktionen im Bundestag setzten, um Nachbesserungen zu erreichen, sprich: Mehr Geld.

Fest zugesagt hat der Bund, dass den Ländern Einnahmenausfälle beim 9-Euro-Ticket in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ersetzt werden. Dazu kommen 1,2 Milliarden Euro für coronabedingte Ausfälle – an diesen beteiligen sich auch die Länder.


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