TOKIO | Wenn es um die Pünktlichkeit bei der Bahn geht, kann sich Deutschland von Japan eine Scheibe abschneiden. Nicht nur Verspätungen sind verpönt, auch zu frühes Abfahren. Welchem Druck die Lokführer in Japan jedoch dabei ausgesetzt sind, zeigt ein bizarrer Rechtsstreit.
Einem japanischen Lokführer hat eine Verspätung von einer einzigen Minute nicht nur unglaublich Nerven gekostet. Sein Arbeitgeber West Japan Railway Company (JR West) bestrafte den Mann sogar mit einem Lohnabzug: um 43 Yen. Das sind umgerechnet 32 Cent. Doch statt die Gehaltskürzung stillschweigend hinzunehmen, zog der Lokführer vor Gericht – und sorgt damit in einem Land für Aufsehen, in dem es zur Arbeitskultur gehört, dass Überstunden oft nicht gezahlt werden und Mitarbeiter bei Krankheit ihre Urlaubstage nehmen. Am 19. April wird mit dem Urteil in dem kuriosen Prozess gerechnet.
Der Lokführer, dessen Namen die Medien des Landes nicht nennen, sollte an jenem schicksalhaften Morgen des 18. Juni 2020 am Bahnhof Okayama in Westjapan einen Zug ins Depot fahren. Laut der größten japanischen Tageszeitung Yomiuri Shimbun erschien der Mann um 6.48 Uhr an einem Gleis, an dem er den leeren Zug erwartete. Doch das war das falsche Gleis. Um 7.08 Uhr bemerkte er seinen Fehler und lief zum Nachbargleis. Dadurch habe sich die Übergabe des Zuges zwischen den beiden Lokführern um zwei Minuten verspätet. Infolgedessen habe sich die Abfahrt um eine Minute verzögert. Um 7.20 Uhr sei er im Depot angekommen, ebenfalls eine Minute zu spät.
Der Arbeitgeber JR West rechtfertigt die Lohnkürzung mit ihrem strengen Arbeitsprinzip: “keine Arbeit, kein Lohn”. Der Lokführer habe während der Verwechslung nicht gearbeitet. Die Firma behielt zunächst 85 Yen für die zweiminütige Verspätung ein, reduzierte die Strafe jedoch auf eine einminütige Verspätung, nachdem der Fahrer sich bei der örtlichen Arbeitsbehörde beschwert hatte. Vor Gericht argumentiert die Klägerseite, die beanstandete eine Minute Verspätung sei sehr wohl Arbeitszeit gewesen. Außerdem sei es durch das Versehen des Lokführers zu keinerlei Unterbrechung der Zugfahrpläne gekommen.
Der Lokführer fordert nun vor Gericht die ihm gekürzten 43 Yen plus 13 Yen an Überstundengeld sowie 2,2 Millionen Yen (16.300 Euro) an Schadenersatz für die durch die Entscheidung seines Arbeitgebers verursachten psychischen Qualen. Der bizarre Rechtsstreit wirft denn auch nicht nur ein Schlaglicht auf die legendäre Pünktlichkeit der japanischen Bahnen, sondern auch auf Japans nicht selten ausbeuterische Arbeitswelt. Im Internet erhält der Lokführer von Landsleuten viel Unterstützung für seine Klage. “Sie können also jemandem das Gehalt um eine Minute kürzen, aber Überstunden können Sie nicht in Minutenschritten bezahlen”, schrieb jemand laut Medien.
Japans Bahnen sind ohne jeden Zweifel Weltklasse. Zu Recht ist die Hightech-Nation stolz auf die Zuverlässigkeit ihrer obendrein sauberen Züge. Für Takeshi Hara, Professor der Open University of Japan, geht die Gewohnheit, sich absolut strikt an den Zeitplan zu halten, auf die einstigen Sonderzüge für das Kaiserpaar zurück. In der Zeitung Asahi Shimbun erzählt er, wie bei einer Reise des Kaisers 1928 nach Kyoto der Zeitplan auf die Sekunde genau eingehalten wurde.
Mit der “kaiserlichen” Pünktlichkeit nimmt es Japan noch heute höchst genau. Das gilt auch für Japans Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen, der Stolz der Nation. Außer bei Naturkatastrophen wie Erdbeben kommt es auch hier kaum zu Verspätungen. Kommt es aber doch mal zu kurzen Verspätungen von nicht einmal einer Minute, führt dies zu wiederholten Entschuldigungen gegenüber den Fahrgästen. 2017 hatte sich ein Bahnbetreiber zu einer Entschuldigung gezwungen gesehen, weil eine Tokioter Vorortbahn nicht zu spät, sondern zu früh abgefahren war: um 20 Sekunden. Dabei hatte sich gar keiner beschwert.