U-Bahnhöfe sind alles andere als besinnlich. Das ändert sich, wenn Abdul Rahman Alali in die Tasten greift. Zwischen Mülleimern, Gleisen und Aufzug spielt der Syrer Klavier und vergisst den Alltag.
Über die Treppe geht es hinab in die unwirtlichen Tiefen des U-Bahnhofs Charlottenplatz in Stuttgart, ein von Stadtplanern einst kaputt sanierter Ort, schmutzig und laut. Ein trostloser, wirklich nicht besinnlicher Verkehrsknotenpunkt mit mehreren Ebenen mitten in der Stadt, an dem man vieles erwartet, sicher aber nicht den mal warmen, mal heiteren Sound eines Klavierspiels.
Und doch. Während Heerscharen von Menschen von einem Gleis zum anderen hasten, um den Charlottenplatz schnell wieder zu verlassen, sitzt Abdul Rahman Alali gebeugt über der Tastatur und spielt Klavier. Stunde um Stunde. Der U-Bahnhof ist für ihn seit dem vergangenen Sommer zur zweiten Heimat geworden, ein Musikzimmer mitten im Nirwana der Großstadt und fernab der umkämpften syrischen Heimat.
Meist sitzt er morgens dort am öffentlichen Klavier zwischen dem gelben Briefkasten und der Treppe, oft auch an Nachmittagen und sogar nachts. Alalis Finger huschen über die weißen und schwarzen Tasten, während die Stadtbahnen ankommen und weiterfahren. Durchsagen ertönen, das Raunen von Gesprächen ist zu hören und perlende Melodien.

Pendler und Nachtschwärmer hören zu
Sein Publikum? Die Pendler, die Kinder und Schüler, die Nachtschwärmer, wenn der 20-Jährige spätabends noch eigene Kompositionen ausprobiert. Reisende, die eben noch den Schritt beschleunigten. Viele halten inne, horchen auf. Hier verbindet sich Alali mit den Fremden im Alltag – bis der nächste Zug einfährt.
Dabei kann er, der nach eigener Aussage vor acht Jahren mit seiner Familie aus der syrischen Hauptstadt Damaskus nach Deutschland kam, gar keine Noten lesen. Er habe sich das Klavierspiel über Youtube-Videos beigebracht, nachdem er Menschen gesehen habe, die auf der Straße oder in einem Einkaufszentrum Klavier spielten, erzählt Alali. “Da war ich neidisch und habe gedacht, das kann ich auch.”
“Wie auf Wolken”
Im Musiksaal seiner Hauptschule setzt sich Alali erstmals ans Klavier, er spielt zunächst mit einzelnen Fingern, dann mit der rechten Hand, schließlich auch mit links. Geduldig verbindet er immer mehr Töne und Melodien mit den Tasten, wie er sich erinnert. “Wenn es dann läuft, habe ich das Gefühl, wie auf Wolken zu sein, ich gehe dann in Gedanken.”
Durch das nur selten besetzte öffentliche Instrument im Durchgang des Charlottenplatzes hat Alali die Möglichkeit, zu musizieren, wann er will und so lange wie er mag. Stundenlang spielt er Stücke von Pachelbel. Die Filmmelodie aus “Die fabelhafte Welt der Amelie” hat er interpretiert, auch ein kleines Werk von Händel kann Alali inzwischen auswendig spielen – “wie auf Treppenstufen auf und ab hört sich das dann an”, sagt er.
Klaviere stehen auch in anderen Bahnhöfen
Die Idee, ein Klavier in den Bahnhof zu stellen, stammt eigentlich aus Frankreich. Dort haben sich bereits mehr als 100 Bahnhöfe in Konzertsäle verwandelt. Auch in Deutschland warten die schwergewichtigen Instrumente oft in den Hallen und finden häufig auch Freiwillige. Videos junger Pianisten erzielen im Internet rekordverdächtig hohe Klickzahlen.
Das Stuttgarter Klavier geht auf die Initiative einer Stuttgarter Stadträtin zurück, auch die Jugendkunstschule (Jukus) ist mit dabei. Ebenso wie die das StadtPalais – Museum für Stuttgart und die Stuttgarter Straßenbahnen AG. “Das Klavier macht aus diesem tristen Ort etwas Neues”, sagt Jukus-Leiterin Menja Stevenson. “Die Musik spricht Gefühle an und sie füllt den Raum mit etwas anderem. Damit werden die Menschen unmittelbar erreicht.”
Verlobte am Klavier kennengelernt
An Alalis Klavier steht oft eine junge Frau mit Kopftuch und schaut den jungen Mann an, der da leicht gebeugt, den Rücken zu den Gleisen auf dem zerbrechlich wirkenden Schemel sitzt und spielt und spielt und spielt. Alali hat Ana im vergangenen Sommer am Klavier kennengelernt. Mit ihrer Freundin sei sie stehen geblieben. Inzwischen sind die beiden verlobt, wie sie erzählen.
Als sogenannter Familiennachzug kam Alali mit seiner Mutter und zwei Brüdern nach Deutschland – zwei Jahre nach seinem Vater, einem Vermessungsingenieur. Mit dem deutschen Hauptschulabschluss in der Tasche sucht er weiter nach einem Ausbildungsplatz. Das eine oder andere hat der Syrer ausprobiert. Nun will der 20-Jährige sich als Kfz-Mechatroniker oder Vermessungstechniker versuchen, wenn er eine Lehrstelle findet.
Deutschland, das sei wie eine Heimat für ihn geworden, sagt der junge Syrer in fließendem Deutsch. “Ich möchte hier leben, mich integrieren, eine Zukunft aufbauen.”
Mit seiner Musik will er nicht zuletzt auch den Ruf seiner Landsmänner verbessern: “Mich sprechen hier immer Leute an, die sich nicht vorstellen können, dass Menschen aus Syrien auch Musik machen können”, sagt Alali. “Aber es wäre gut, wenn die Deutschen wüssten, dass nur wenige von uns Straftaten begehen.”

dpa / EVN