MÜNCHEN | Die Zuverlässigkeit der Münchner S-Bahn bezeichnen viele Nutzer als Katastrophe. Abhilfe soll eine zweite Stammstrecke schaffen. Doch deren Bau entwickelt sich ebenfalls zum Desaster. Nun will ein Untersuchungsausschuss klären, was wo schief lief – und warum.
Rund sieben Milliarden Euro teuer und frühestens 2035 fertig – die Nachricht von der milliardenschweren Kostenexplosion und der jahrelangen Verzögerung beim Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke in München schlug hohe Wellen. Schnell stand die Frage im Raum, wer im Bauministerium und in der Staatskanzlei wann davon wusste, dass die größte Baustelle im Freistaat völlig aus dem Ruder lief – und warum daraufhin nicht umgehend die Öffentlichkeit informiert wurde. Im Landtag nimmt nun ein Untersuchungsausschuss seine Arbeit auf, um Licht ins Dunkel des Prestigeprojektes zu bringen.
Die elf Abgeordneten wollen Antworten auf 72 Fragen zu zehn Themenkomplexen. Das Gremium besteht aus fünf CSU-Parlamentariern, zwei Abgeordneten der Grünen, je einem Fraktionsmitglied von SPD, FDP und AfD sowie dem Ausschussvorsitzenden Bernhard Pohl von den Freien Wählern. Seine Arbeit beginnt der bereits eingesetzte Ausschuss offiziell mit der konstituierenden Sitzung an diesem Donnerstag.
Zum Hintergrund: Bei der zweiten S-Bahn-Stammstrecke handelt es sich um das derzeit größte Infrastrukturprojekt des Freistaats. Sie soll die bisherige Stammstrecke entlasten, auf der sämtliche S-Bahn-Linien des Netzes die Münchner Innenstadt auf einer einzigen Strecke unterirdisch durchqueren. Es ist die meistbefahrene Zugstrecke Europas, alle zwei Minuten donnert ein Zug hindurch. Damit kommt das System inzwischen nicht nur mit Blick auf die Passagierzahlen an seine Grenzen. Die häufig vorkommenden Störungen haben zudem jeweils großflächige Ausfälle und Verspätungen zur Folge – sehr zum Ärger der in Spitzenzeiten bis zu 950.000 Fahrgäste am Tag.
Um dieses Nadelöhr zu beseitigen, wird auf rund zehn Kilometern Länge die zweite Stammstrecke gebaut. Herzstück ist auch hier ein Tunnel, der über sieben Kilometer hinweg den Hauptbahnhof und den Ostbahnhof miteinander verbindet. Darüber hinaus werden unter anderem drei unterirdische Stationen komplett neu gebaut.
Ursprünglich waren für das Gesamtpaket Kosten von 3,85 Milliarden Euro und eine Fertigstellung im Jahr 2028 vorgesehen. Doch Ende September gab die Bahn – öffentlich angezählt von Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) – nach wochenlangem Schweigen bekannt, dass der Konzern inzwischen mit Kosten von rund sieben Milliarden Euro und einer Bauzeit bis 2035 rechne. Und dies gilt noch als optimistisch – es könnten auch zwei Jahre mehr werden, außerdem sind die heftigen Preissteigerungen des Jahres 2022 noch nicht eingerechnet.
Als Gründe nannte Bahnchef Richard Lutz auf 5,5 Milliarden Euro drastisch gestiegene Bau- und Planungskosten sowie einen auf 1,5 Milliarden Euro deutlich erhöhten Risikopuffer. Neben den gestiegenen Materialpreisen schlugen demnach die Projekterweiterungen wie die Umplanung am Hauptbahnhof heftig zu Buche: Dort kam der Rohbau eines kompletten U-Bahnhofs neu hinzu, in dem später einmal die Linie U9 halten soll – so die Stadt München das Vorhaben tatsächlich durchzieht. Auch eine separate Rettungsröhre und eine neue Trassenführung im Osten führten zu massiven Änderungen des ursprünglichen Plans.
Umso erstaunlicher finden nicht nur Oppositionsabgeordnete, dass die Staatsregierung lange Zeit offiziell von einer “Kostenneutralität” der Erweiterungen ausging. Auch nach Bekanntwerden der neuen Prognose beharrte sie darauf, dass ihr ja stets nur Schätzungen, aber keine “belastbaren Daten” der Bahn als Bauherrin vorgelegen hätten – dabei übernimmt der Freistaat 40, der Bund 60 Prozent der förderfähigen Kosten.
Inzwischen hat Verkehrsminister Bernreiter eingeräumt, dass die Baubegleitung im Ministerium schon früh Alarm geschlagen hatte. Und bereits im Sommer 2020 informierte seine Vorgängerin Kerstin Schreyer Ministerpräsident Markus Söder (beide CSU) persönlich über die Verzögerung, nur Wochen später wurde die Staatskanzlei auch über die Kostenexplosion informiert.
Es passierte – nichts. Stattdessen warf Söder im Frühjahr offiziell seinen Hut in den Ring und kämpfte mit großem Engagement um die Kanzlerkandidatur. Warum keine umgehenden Konsequenzen und keine Information der Öffentlichkeit folgten, ist eine der Fragen, die der Untersuchungsausschuss klären will. Er war von Grünen, SPD und FDP beantragt worden, doch inzwischen haben sich auch die Landtagsfraktionen von CSU und Freie Wähler dem Vorhaben angeschlossen.
Die Zusammenarbeit will der Ausschussvorsitzende Pohl kollegial statt konfrontativ gestalten. Ziel seien echte Ergebnisse. “Ich möchte Fakten haben. Der Sinn eines Untersuchungsausschusses ist es, dass man aus diesem Grauschleier ‘da ist wohl was und da hat wohl jemand’ die Dinge klar filtriert in Schwarz und Weiß.”
Um keine Zeit zu verlieren, hat Pohl schon die Akten aus dem Ministerium und der Staatskanzlei angefordert. Nach deren Studium wird der Ausschuss Zeugen laden, die im Zweifel mit Ordnungsgeld und Ordnungshaft zu einer Aussage gezwungen werden können, sofern sie sich damit nicht selbst strafrechtlich belasten. Im Anschluss soll dann der Abschlussbericht entstehen. Das Gremium muss sich beeilen: Der Untersuchungsausschuss muss seine Arbeit vor der Landtagswahl im Oktober abgeschlossen haben.
dpa / EVN